Leseproben

Auszug aus dem 1. Kapitel: Tante Calpurnias Abschiedsgeschenk

Der ehrenwerte Senator Gajus Monetus hob schwer atmend den silbernen Becher an die Lippen, um mit einem Schluck Wein Ärger und Enttäuschung hinunterzuspülen. „Ich weigere mich, diesen faulen Hohlkopf noch länger zu unterrichten!“, hatte ihm Petronius soeben erklärt. „Nicht für alles Geld, das in Rom aufzutreiben ist!“ Daraufhin hatte der Gelehrte hastig seine Pergamentrollen zusammengerafft und war leise vor sich hinbrabbelnd aus dem Haus geschlurft. Der Senator seufzte. Rufus Monetus, sein Sohn, Spross der ruhmreichen und ehrenwerten Familie Monetus – ein fauler Hohlkopf! Gajus Monetus trank den Becher in einem Zug leer und wischte sich mit dem Handrücken die Lippen ab. Dann richtete er sich mit einem Ruck auf. Er wusste, was er nun zu tun hatte. Entschlossen zupfte er die Falten seiner Toga zurecht und schritt energisch über das kunstvolle Mosaik des Atriums zum Studierzimmer. 

   Stirnrunzelnd blickte der Senator auf den jungen Mann in der kurzen, weißen Tunika hinab, der sich dort, inmitten achtlos herumgeworfener Schriftrollen, auf einem Ruhebett lümmelte. „Er könnte das Idealbild eines edlen Römers abgeben“, dachte der Senator mit Wehmut. „Hat er doch von mir die gerade Nase und die ebenmäßigen Züge geerbt, welche die Mitglieder der Familie Monetus auszeichnen. Aber das träge Leben und die Vorliebe für süßes Gebäck haben seine Muskeln fett und schlaff werden lassen und sein Gesicht zu einem wahren Vollmond aufgebläht.“ Gajus Monetus seufzte lautlos und räusperte sich dann vernehmlich, als gelte es, eine Rede vor den versammelten Senatoren zu halten: 

   „Mein Sohn", begann er mit gestrenger Stimme, „wie du weißt, ist es seit jeher der sehnlichste Wunsch deiner Mutter gewesen, dass aus dir einmal ein berühmter Dichter oder Denker wird. Und wie du sicher auch weißt, habe ich weder Kosten noch Mühen gescheut, die fähigsten Lehrer und angesehensten Philosophen zu deiner Erziehung in mein Haus zu holen. Aber ihr redliches Bemühen blieb leider ohne jeden Erfolg, denn zum Dichten fehlt dir die Fantasie und zum Denken der Verstand!“ Der Senator machte eine Pause, um die Wirksamkeit seiner Worte zu erhöhen, und Rufus grapschte mit seinen dicken Fingern unbeeindruckt nach einer Schale mit kandierten Früchten. 

   „Mein Sohn", fuhr der Senator leicht irritiert fort, „du bist nun achtzehn Jahre alt, und da du nicht zum Philosophen taugst, habe ich beschlossen, dass du in die Legionen des Kaisers eintreten wirst, um Soldat zu werden. Niemand wird dort vermissen, dass die Götter dich nicht mit ausreichenden Geistesgaben gesegnet haben, denn als Soldat brauchst du nicht zu denken, sondern nur zu tun, was man von dir verlangt.“ Der Senator unterbrach seine Rede wieder durch eine Kunstpause, und Rufus stopfte sich eine neue Leckerei in den Mund. 

   „Mein Sohn", begann der Senator von Neuem, „ich erwarte von dir, dass du tapfer bist, nach Ruhm und Ehre strebst wie einst unsere Vorfahren, und dass du dafür sorgst, dass der Glanz des Namens Monetus nicht verblasst!“ Gajus Monetus warf sich nach diesen Worten das herabgerutschte Ende der Toga über die Schulter und sah erwartungsvoll auf seinen Sprössling hinab. 

Rufus blinzelte seinen Vater aus müden Augen an, gähnte und drehte sich gelangweilt auf den Bauch, um sich von seinem Diener den Rücken mit wohl riechendem Öl massieren zu lassen. Er dachte nicht im Traum daran, in den Legionen des Kaisers zu dienen - und Ruhm und Ehre – waren ihm schnuppe. Tief betrübt verließ der Senator das zweckentfremdete Studierzimmer und ihn beschlich die düstere Ahnung, dass sein Sohn zu nichts anderem als zum Faulpelz taugte.


   Zu jener Zeit, es war um das Jahr 162, vielleicht war es aber auch das Jahr 163, regierte in Rom der Kaiser Mark Aurel. Es heißt, dass der Kaiser ein sehr weiser Mann war, deshalb blieben ihm auch die Sorgen seines hoch geschätzten Senators nicht verborgen. Seit einer halben Stunde schon wandelte der Kaiser in seiner Bibliothek auf und ab und legte angestrengt nachdenkend die Stirn in Falten. Keiner seiner Kommandanten wollte den nichtsnutzigen Sohn des Gajus Monetus haben. Auch der Hauptmann der Garde hatte abwehrend die Hände erhoben. Das verhätschelte Muttersöhnchen eines Senators? Nein, das könne ihm nicht einmal der Kaiser zumuten, hatte der Hauptmann gerufen.

   Mark Aurel wollte den geschätzten Senator nicht enttäuschen, und nachdem er gut ein dutzend Mal die marmornen Säulen in der Bibliothek umrundet hatte, kam ihm plötzlich ein wahrhaft kaiserlicher Geistesblitz: „Ich werde ihn ins ferne Germanien schicken“, sprach der Kaiser zu sich selbst, „mit einer streng geheimen Botschaft. Der geschätzte Senator wird sich hoch geehrt fühlen! Dass die Botschaft absolut überflüssig ist, werde ich ihm natürlich nicht auf die Nase binden. Aber schließlich muss ich ja damit rechnen, dass das verzärtelte Bürschchen niemals sein Ziel erreichen, und sehr wahrscheinlich auch nie mehr nach Rom zurückfinden wird.“


   Diesem allerhöchsten und wahrhaft weisen Befehl konnte sich nicht einmal der träge Rufus entziehen. 

   „Bei allen Göttern!“, jammerte seine Mutter Livia, als sie vom ‚ehrenvollen‘ Auftrag ihres Sohnes erfuhr. „Zu den wilden Barbaren, wie schrecklich! Sie werden meinen armen Rufus umbringen!“ 

   „Die Wölfe werden ihn zerreißen!“, unkte Großmutter Camilla.

   „Er muss bestimmt jämmerlich verhungern, so ganz allein in diesem barbarischen Land!“ Die Mutter raufte sich vor Gram die Haare.

   „Und erst die unmenschliche Kälte dort, das raue Klima! Mein armer Bub wird sich bestimmt erkälten und an einer Lungenentzündung sterben!“ Die Großmutter begann verzweifelt zu schluchzen und zerriss vor Trauer ihre Kleider. 

   „Das alles ist noch lange nicht das Schlimmste“, begann nun Tante Calpurnia, die bis jetzt geschwiegen hatte. „Glaubt mir, das Schlimmste sind die rohen Sitten der Barbaren und der Legionäre! Das zarte Kind wird seine gute Erziehung vergessen und – wenn überhaupt – als roher Soldat zurückkehren!“ Tante Calpurnia wusste, wovon sie sprach, denn ihre Freundin hatte einst ihren Mann ins wilde Germanien begleitet.


   Gemeinsam besuchten die Frauen sämtliche Tempel der Stadt. Sie opferten dem Jupiter, der Juno, der Minerva und dem Mars, und vorsichtshalber auch noch den weniger wichtigen Göttern, um den Schutz der Himmlischen für ihren armen Liebling zu erflehen. Als dann der Tag des Abschieds gekommen war, packte Livia ihrem Sohn so viel Verpflegung ein, dass er damit eine halbe Legion Soldaten hätte ernähren können. Die Großmutter hatte ihrem Enkel einen besonders warmen Mantel anfertigen lassen und hängte ihm zum Schutz ein wundertätiges Amulett um den Hals. Tante Calpurnia jedoch, die Sorge trug, dass ihr Neffe bei den Barbaren die hohe Kultur der Römer vergessen könnte, schenkte ihrem Neffen neben einem Dutzend Pergamentrollen, die mit erbaulichen Gedichten beschrieben waren, eine kunstvoll bemalte Amphore, die noch dazu mit köstlichem Wein gefüllt war. Der Senator, erfüllt mit neuer Hoffnung, kramte aus den Tiefen einer Truhe das alte Schwert hervor, mit dem Lucius Monetus, ein ruhmreicher Vorfahr der Familie, einst gegen die Karthager gekämpft hatte. Seit Generationen wurde es vom Vater an den Sohn vererbt, und nun sollte es das Leben seines Sohnes schützen. Rufus Monetus schickte sich mit gemischten Gefühlen in sein unabwendbares Schicksal, denn im Grunde war er ganz froh, dass er endlich einmal den ewig lamentierenden Frauen entwischen konnte. Zusammen mit seinem Diener Festus, der nur um ein paar Jahre älter war als er selbst, machte er sich, als einfacher Kaufmann getarnt, auf den langen und beschwerlichen Weg. 


Auszug aus Kapitel 2:  Von Rittern, Raubrittern und falschen Helden

Siegbert streifte sich die dünnen, blonden Strähnen aus dem Gesicht und blinzelte in den wolkenlosen Himmel. Die Sonne näherte sich zusehends dem Horizont. Auch sein knurrender Magen meldete ihm, dass es höchste Zeit war, den Schritt zu beschleunigen und zur Burg zurückzukehren. Er hatte heute kein Mittagessen gehabt. Trotzdem hatte es Siegbert nicht eilig. Sein Vater war garantiert furchtbar wütend, weil er sich schon wieder vor der Fechtstunde gedrückt hatte. Plötzlich stutzte er. Das war kein Magenknurren, was er da soeben gehört hatte! Es klang wie Kampfgetümmel, was da von der Burg zu ihm herabdrang. Ja, jetzt konnte er deutlich das Klirren der Schwerter und Hellebarden vernehmen, das Schnauben der Pferde, die Flüche und Schreie der Kämpfenden, das Kreischen der Frauen. - Die Steinberger! Vor zwei Monaten hatten Eberhard und seine Mannen ihr Dorf überfallen und dann versucht, die Burg des Grafen zu stürmen. Nun waren sie wieder einmal gekommen, um Rache zu nehmen. Siegbert lauschte den dumpfen Schlägen, die von der Burg herab zu drangen. Die Steinberger versuchten, das Burgtor zu rammen! Kalter Angstschweiß brach Siegbert aus und sein Herz begann, bis in die Beinlinge hinabzurutschen. Der älteste Sohn des kühnen Ritters Eberhard von Schroffenfels nahm die dürren Beine unter den Arm und rannte – rannte zurück in den Wald und blieb erst stehen, als er keine Luft mehr bekam. 

   Siegbert überlegte. Zur Burg zurück konnte er nicht. Das Tor war verrammelt, außerdem würden die Steinberger mit Freuden Kleinholz aus ihm machen. Er musste heute Nacht im Wald bleiben. Bei dem Gedanken erschauerte er. Da fiel ihm die Höhle wieder ein, deren Eingang er am Nachmittag entdeckt hatte. Er hatte sich nicht getraut, sie zu erkunden. Aber jetzt - besser in einer Höhle schlafen als im Freien. Mit klopfendem Herzen und angehaltenem Atem schlich Siegbert ein paar Schritte in die Höhle hinein. Er lauschte und wartete. Seine Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Die Höhle schien nicht sehr groß zu sein. Vorsichtig tastete er sich noch ein Stück vorwärts - da stieß er mit dem Fuß gegen etwas Hartes, das auf dem Felsboden ein metallisches Geräusch erzeugte. Siegbert bückte sich. Da lag etwas! Etwas, das wie ein Schwert aussah!
Siegbert von Schroffenfels besah seinen Fund von allen Seiten: Das, worüber er gestern in der Höhle gestolpert war, war ohne Zweifel ein Schwert. Ein seltsames Schwert - es war ungewöhnlich kurz und breit, und außerdem schrecklich verrostet. Sicher lag es schon seit ewig langer Zeit in der Höhle und sein Besitzer war längst tot. Womöglich moderte dort drinnen noch sein Gerippe. Der Gedanke hatte ihn so erschreckt, dass Siegbert es vorgezogen hatte, ein gutes Stück entfernt im Freien zu schlafen. Nun waren seine Gedanken wieder klarer, die schlimmste Furcht verflogen, der Hunger mit wilden Beeren gestillt. Er ging hinunter zum Bach, wusch sich das Gesicht, in dem Pickel und erster Bartflaum um die Vorherrschaft stritten und fuhr mit den nassen Fingern durchs wirre Haar. Dann nahm er sich das Schwert vor. Mit feinem Sand versuchte er, es vom ärgsten Rost zu reinigen. Er hatte keine Wahl! Es musste ihm gelingen, seinen Vater mithilfe dieser alten Waffe gnädig zu stimmen. 
***
In schimmernder Rüstung und mit hochgeklapptem Visier, in bereits abbröckelnder Ölfarbe verewigt, blickte Ahnherr Roderich aus seinem vergoldeten Rahmen auf das Gewimmel im Rittersaal herab. Mägde schleppten große Kessel mit dampfenden Speisen für die hungrigen Kämpfer heran und erschöpfte Knappen schälten sich klirrend aus ihren schützenden Kettenhemden. Burgherrin Genoveva schritt mit mildem Blick durch die Reihen der Verwundeten, verband blutende Köpfe und bandagierte malträtierte Glieder. Sie hatten die Burg verteidigt und die Angreifer in die Flucht geschlagen. 
Ritter Eberhard saß derweil unter dem Bildnis des ruhmreichen Vorfahren und blickte abwechselnd auf seinen ältesten Sohn und dann wieder auf das merkwürdige Schwert, das er prüfend in den Händen hielt.
   „Soso, mein Sohn, der größte Hasenfuß im ganzen Umkreis, hat also einen bewaffneten Ritter besiegt.“
   „Ja, mein Herr Vater. Er sprengte plötzlich mit gezogenem Schwert auf mich los!“
   „Und du, mein Sohn, zu Fuß und unbewaffnet, hast ihm das Schwert entrissen?“ 
   „Nicht so direkt, mein Herr Vater.“ Der Zweifel in Ritter Eberhards Stimme verunsicherte Siegbert ein wenig. „Ich warf einen Knüppel zwischen die Beine seines Pferdes. Es strauchelte, und der Ritter stürzte zu Boden!“
   „Soso“, Eberhard nickte, halb anerkennend, halb zweifelnd. „Und dann hast du mit ihm gerungen und ihm die Waffe entrissen?“ Der Zweifel in des Ritters Stimme gewann wieder die Oberhand.
   „Also – na ja – also - um ganz ehrlich zu sein“, stotterte Siegbert, „- er verlor das Schwert beim Sturz. Ich war schneller und nahm es an mich!“
   „Und dann? Hast du ihn getötet?“
   „Aber nein, mein Herr Vater. Ich war großherzig und schenkte ihm das Leben. Da sprang er auf sein Pferd und galoppierte augenblicklich davon.“
   „Soso, Ritter Eberhard kratzte sich am Kopf und dachte nach. „Wie hieß denn dieser geheimnisvolle Ritter und wo kam er her?“
   „Das weiß ich nicht, mein Herr Vater. Er war ein Fremder. Er redete in einer Sprache, die ich nicht verstehen konnte. Und auch sonst sah er sehr merkwürdig aus.“
Ein mysteriöser Ritter, der in einer fremden Sprache redete und mit einem seltsam geformten, reichlich verrosteten Schwert seinen Sohn attackierte? Eberhard besah sich das zu kurz und zu breit geratene Schwert noch einmal von allen Seiten und sperrte es dann kurzerhand in die Waffenkammer. Er wusste nicht so recht, was er von der Geschichte halten sollte. Aber wenn man sie noch etwas ausschmückte und den tollpatschigen Siegbert entsprechend instruierte, dann ließ sich damit beim Ritter von Schiefenstein ganz sicher mächtig Eindruck schinden. 

Auszug aus Kapitel 3:  Ein Urlaubssouvenir

   Die südliche Sonne brannte unbarmherzig auf die Ewige Stadt herunter. Frau Rehbach, die ihr neues, weißes Kleid aus dem Sommerschlussverkauf angezogen hatte, hielt in der einen Hand den Reiseführer, in der anderen den Stadtplan, und lotste die Familie zielsicher durch die Straßen und Gassen. Herr Rehbach, der das Jahr über dezente graue Sakkos und unauffällige Krawatten trug, war mutig in ein buntes T-Shirt und Bermudas geschlüpft und schleppte schwitzend die umfangreiche Kameraausrüstung. Jörg, im neuen T-Shirt und Shorts vom Touristenmarkt, trottete murrend hinterher. Vor jeder Sehenswürdigkeit wurde die Familie abgelichtet: die Rehbachs vor dem Petersdom, die Rehbachs vor dem Kolosseum und der Engelsburg, die Rehbachs vor dem Pantheon und der Mark-Aurel-Säule. Stets baute Herr Rehbach sein Stativ auf, stellte die Kamera ein und schraubte an seinen Objektiven. Dann zupfte Frau Rehbach ihre sorgsam geföhnten braunen Locken zurecht und befahl Jörg, das T-Shirt ordentlich in die Hose zu stecken. Bevor Herr Rehbach den Selbstauslöser einschaltete, fuhr er noch einmal mit dem Kamm durch seine schon etwas schütteren roten Haare und flitze los. Auf Kommando fletschte die Familie lächelnd die Zähne, die Kamera klickte - und Frau Rehbach blätterte weiter in ihrem schrecklichen Reiseführer, der vor lauter Leuchtstiftmarkierungen nur so strotzte. Herr Rehbach schob gerade wieder sein Stativ zusammen, als ihn ein älterer, dunkelhaariger Mann ansprach: 
   „Signor! Sie sind ein Mann mit Kunstverstand, das sehe ich sofort. Sie sind der Mann, der dieses unbezahlbare Kleinod zu würdigen weiß, von dem ich mich so schweren Herzens trennen muss!“ Der Mann stand gebückt, wirkte wie vor lauter Elend in sich zusammengesunken. Mit betrübtem Blick wickelte er ein schmuddeliges Tuch auf – und eine ziemlich alt aussehende Tonvase mit zwei Henkeln kam zum Vorschein.
„Diese unersetzliche Antiquität ist ein uraltes Erbstück. Ich habe sie von meinem Ururgroßvater bekommen, und dieser wiederum hatte sie auch von seinem Ururgroßvater. Diese kostbare Amphore gehörte einst dem Kaiser Augustus, und seit ich nur denken kann, ist sie im Besitz meiner Familie.“
   „Und warum wollen Sie sich dann von ihr trennen?“ Herr Rehbach schwankte zwischen Misstrauen und Neugier.
   „Die Not zwingt mich, Signor, die Not! Ich habe vier hungrige Kinder und meine arme, alte, kranke Mama zu versorgen. Darum habe ich mich schweren Herzens entschlossen, dieses unwiederbringliche Erbstück zu verkaufen – damit ich den Arzt für meine arme, alte, kranke Mama bezahlen kann.“ Der Dunkelhaarige wischte sich ein paar Tränen aus dem Auge, bevor er fortfuhr: „Aber ich habe mir geschworen, dass ich sie nur jemandem gebe, der dieses Kunstwerk auch zu würdigen weiß.“ Mit einem Mitleid erregenden Schniefen begann er seine Amphore wieder einzuwickeln.
   „Die Vase sieht genauso aus, wie jene, die wir vorhin im Museum gesehen haben“, stellte Frau Rehbach fest.
   „Vielleicht ist sie wirklich antik?“, überlegte Herr Rehbach. „Was soll die Amphore denn kosten?“
   „Weil Sie ein kunstliebender Mann mit Sachverstand sind, gebe ich Sie Ihnen für 500 Euro – obwohl es mir fast das Herz bricht!“
   „Puh!“ Herr Rehbach atmete hörbar aus. „500 Euro!“, rief er entsetzt. „Für eine Vase? – Nein danke, das ist mir zu viel!“
   „Bedenken Sie, Signor“, warf der Dunkelhaarige ein, „sie gehörte einst dem Kaiser Augustus! Und ich brauche das Geld so dringend für meine fünf hungrigen Kinder und meine arme, alte, kranke Mama! Aber weil Sie es sind, gebe ich Ihnen die Vase für 400!“
   „400 Euro? Auf keinen Fall! Aber für 200 wäre ich eventuell interessiert!“
   „Signor, Sie ruinieren mich!“, jammerte der Mann mit der Amphore. „Denken Sie doch an meine sechs hungrigen Kinder und an meine arme, alte, kranke Mama! 300 Euro – und die Amphore gehört Ihnen!“ 
Dem Gedanken, eine wertvolle Antiquität günstig zu ergattern, konnte Herr Rehbach einfach nicht widerstehen – und nach dem er im Stillen die Reisekasse durchgerechnet hatte, wechselten 300 Euro und die Amphore den Besitzer. 
   „Grazie Signor, mille grazie!“, murmelte der Vasenverkäufer und war im nächsten Augenblick um ein paar Straßenecken verschwunden. Urplötzlich ging eine erstaunliche Veränderung mit ihm vor: Seine eingesunkene Haltung straffte sich und der betrübte Blick wich einem zufriedenen Grinsen. Eilig steuerte er auf ein klappriges, altes Auto zu und öffnete den Kofferraum. Dort holte er aus einer mit Holzwolle gepolsterten Kiste eine Amphore heraus, die der von vorhin glich wie ein Ei dem anderen. Nachdem er sie sorgfältig in das schmuddelige Tuch gewickelt hatte, sank seine Haltung wieder in sich zusammen, und mit zutiefst betrübter Miene steuerte er zielstrebig auf den nächsten, mit Kameras behängten Touristen zu.

Auszug aus Kapitel 6:   Die Fälschung kommt zu unverhofften Ehren

   Goldhamster Stupsi schob sich raschelnd die Einstreu zurecht, fischte eine Erdnuss aus der Futterschale und befreite sie mit seinen scharfen Nagezähnen lautstark aus ihrer harten Schale. Daniel spähte auf die Leuchtziffern seines Weckers: Schon elf vorbei, und Claudia war immer noch nicht zu Hause. Das konnte seinen ganzen Plan vermasseln. Seine Schwester war mit Kai ausgegangen. Das Fußballtraining war ausgefallen und Kai hatte Zeit für Claudia. Er hatte auch schon den fußballfreien Sonntag mit ihr verbracht und seither war Claudia in allerbester Stimmung, trällerte alberne Schlagerliedchen, schüttelte sich zu Discomusik und nannte Daniel „Danilein“ und „Brüderchen“. 
   Viertel nach elf! Jetzt sollte sie endlich nachhause kommen! „Bleib nicht so lange weg“, hatte seine Mutter gemahnt, „damit du morgen in der Schule wieder fit bist!“ Daniel wusste, solange Claudia nicht zu Hause war, würden seine Eltern nicht schlafen. So ein Mist! Die dumme Gans konnte alles verderben! Daniel lockerte den Gürtel seiner Hose und drehte sich auf die Seite. Es war nicht sehr bequem, mit Bluejeans und Sweatshirt im Bett zu liegen, aber er wollte sich nachher nicht unnötig mit Anziehen aufhalten müssen.
   Goldhamster Stupsi war inzwischen satt und sauste im Affenzahn durchs Laufrad. Ein Auto näherte sich. Daniel horchte angestrengt in die Dunkelheit. Das Auto fuhr vorbei, ohne anzuhalten. Zwanzig nach elf. Stupsi hangelte kopfüber das Käfiggitter entlang. Daniel drehte sich auf die andere Seite. Wieder ein Auto. Der Auspuff röhrte. Das klang nach Kais Rostlaube. Daniel setzte sich auf und lauschte. Stupsi ließ sich in den Futternapf plumpsen und knackte geräuschvoll Maiskörner. „Sei endlich still, du Krachmacher, sonst wirst du ins Badezimmer ausquartiert!“, schimpfte Daniel zum Käfig hinüber. Das Auto hielt. Türen wurden geöffnet und wieder zugeschlagen. Er hörte Claudia leise kichern, hörte, wie sie die Haustür aufschloss. Der Golf röhrte davon. Daniel ließ sich erleichtert in die Kissen zurücksinken, als er vernahm, wie Claudia auf Strümpfen die Treppe hinaufschlich und im Bad verschwand. „Wird noch ein wenig dauern, bis sie die Zähne geputzt und die ganze Farbe aus dem Gesicht gekratzt hat, aber dann hoffe ich, dass alle Karges schlafen wie die Murmeltiere!“, dachte Daniel, knuffte sein Kopfkissen zurecht und deckte sich zu, während Stupsi vorsorglich die restlichen Körner in seinen Hamsterbacken verstaute.

   Was war das? Dieses leise Piepen, das sich so hartnäckig in Daniels Bewusstsein drängte? Das Piepen schien näher zu kommen, wurde lauter, aber Daniel wollte nichts damit zu tun haben. Er dreht sich auf die andere Seite, zog die Decke über die Ohren. Das Piepen war jetzt genau neben seinem Ohr – aufdringlich und gleichmäßig – piep – piep – piep! Der Weckalarm seiner Armbanduhr! Er war eingeschlafen! Daniel setzte sich mit einem Ruck auf und stellte den Alarm ab. Halb eins – hoffentlich hatte niemand sonst das Piepen gehört! Daniel war mit einem Satz aus dem Bett. Er war jetzt hellwach, zog fix eine dunkle Windjacke über und nahm seine Schuhe in die Hand. Stupsi flitzte ausgeschlafen und unbeirrt durch sein Laufrad. Langsam und geräuschlos drückte Daniel die Türklinke herunter und verließ sein Zimmer. Auf dem Flur blieb er stehen und lauschte: Aus Claudias Zimmer war kein Laut zu hören. Daniel bewegte sich auf Zehenspitzen weiter. Wieder spitzte er die Ohren: Leises Schnarchen drang aus dem Schlafzimmer der Eltern. Daniel wartete noch ein paar Sekunden, dann zog er eine Taschenlampe aus dem Turnschuh und leuchtete die Treppe hinab. Manchmal knarrten die verflixten Stufen. Er hatte sie am Nachmittag vorsichtshalber ausgetestet und abgezählt. Lautlos wie ein Indianer auf dem Kriegspfad schlich er abwärts, in einer Hand die Schuhe, in der anderen die Taschenlampe. Über die vierte Stufe stieg er mit einem großen Schritt hinweg, die nächsten nahm er wieder einzeln, die siebte ließ er aus, die zehnte auch. Geschafft! Daniel atmete ein paar Mal tief durch, bevor er mit angehaltenem Atem die Kellertür öffnete. Sie gab nicht das geringste Geräusch von sich. Daniel nickte zufrieden. Er hatte die Angeln am Nachmittag in weiser Voraussicht sorgfältig geölt. Erst als er die Kellertür hinter sich geschlossen hatte, wagte er es, das Licht anzuknipsen und seine Schuhe anzuziehen. Die Steintreppe knarrte nicht, und die weichen Sohlen der Turnschuhe dämpften jeden Laut. Unten im Keller hatte er bereits am Nachmittag einen Spaten und kräftige Schnüre bereitgelegt. Daniel schob sein Mountainbike beiseite. Es hatte keine Beleuchtung, keinen Gepäckständer. Nein, das altmodische Tourenrad seines Vaters war für den nächtlichen Ausflug besser geeignet. Daniel befestigte den Spaten mit ein paar fachmännischen Seemannsknoten an der Querstange, was schwieriger war als gedacht, weil seine Finger dabei vor Aufregung zitterten. Hinter ein paar alten Blumentöpfen hatte er eine Pappschachtel mit den Scherben der Vase versteckt. Er zurrte sie am Gepäckständer fest und verließ, leise wie ein Einbrecher, das Haus durch den Kellereingang. Draußen sah er sich verstohlen um. Es war keine Menschenseele zu sehen. Daniel schwang sich aufs Rad und fuhr los - ohne Licht, auf dem Gehsteig. Bloß keine Aufmerksamkeit erregen! Vor dem Haus der Rehbachs hielt er an. Von Jörg war noch nichts zu sehen. Daniel sah nervös auf die Uhr: fünf vor eins! Sein Herz klopfte wie wild. Dabei hatte er sich doch fest vorgenommen, kühl und überlegen zu bleiben! Da, die Seitentür der Garage ging auf! Jörg bugsierte sein Fahrrad heraus. Daniel atmete hörbar auf. Jetzt fehlte nur noch Martin. Hoffentlich hatte er nicht verschlafen! Es waren nicht mehr als zweihundert Meter zum Haus der Rödels. Als sie dort ankamen, schlug die Kirchturmuhr eins – und im nächsten Moment erschien Martin in der Kellertür.
   „Mannomann!“, flüsterte Martin aufgeregt. „Beinahe hätte ich nicht kommen können. Die ganze Nacht ist meine kleine Schwester rumgegeistert. Kam dauernd in mein Zimmer. Mal hat sie ihren Teddy vermisst, dann fiel ihrer Puppe der Arm ab, und ich musste sie reparieren. Das nächste Mal hat sie behauptet, auf ihrem Bett säße ein Nachtgespenst. Aber zum Schluss ist sie dann doch noch eingeschlafen. Die kleine Kröte würde mich nämlich eiskalt verpetzen. Seid bloß froh, dass ihr euch nicht mit kleinen Schwestern herumplagen müsst!“
   „Große Schwestern können das Leben auch unnötig komplizieren“, stellte Daniel fest. 
Schroffenfels wirkte wie ausgestorben. Der ganze Ort lag, wie es schien, in tiefstem Schlaf, nur von Weitem hörte man einen Hund bellen. Trotzdem wagten sie noch immer nicht, die Fahrradbeleuchtung einzuschalten. Eine Vorsichtsmaßnahme, die sich als nicht unbegründet erwies. Gerade als sie den Marktplatz überquerten, schreckte das Geräusch eines herannahenden Autos die Freunde auf. Schnell versteckten sie sich in einer Hofeinfahrt. Das Auto fuhr langsam und hielt mitten auf dem Marktplatz. „Polizei“, flüsterte Jörg. Sein Herz war längst in die Hosentasche gerutscht. Die drei drückten sich mit angehaltenem Atem platt gegen die Wand – der Streifenwagen fuhr langsam weiter – die Freunde atmeten gleichzeitig aus.

Auszug aus Kapitel 9:  Eine unheimliche Begegnung

   Claudia ließ das Buch sinken, in dem sie gerade las, und sinnierte über den Inhalt des Romans. Er handelte von wagemutigen Kreuzrittern, kühnen Helden und schönen Ritterfräulein, die vor allen Dingen tugendhaft und fügsam waren. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie ihr Leben wohl ausgesehen hätte, wäre sie 1000 Jahre früher zur Welt gekommen – droben auf der Burg – als Claudia von Schroffenfels: Plötzlich trug sie ein unpraktisches, langes Gewand mit weiten Ärmeln, darüber ein enges Mieder, und ihr Haar bedeckte eine spitze Haube. Vor ihr stand ihr Vater: Der dunkle Anzug, den er täglich im Büro trug, hatte sich in eine rote Tunika verwandelt, unter der er tatsächlich so etwas Ähnliches wie Strumpfhosen trug. Seinem Bauch, den er immerzu vergaß einzuziehen, war er mit einem breiten Gürtel zu Leibe gerückt, an dem ein langes Schwert baumelte. Das stets kurz geschnittene, blonde Haar war gewachsen und wellte sich fast bis zur Schulter. Er musterte Claudia mit strengem Blick und sprach: 
   „Selbstverständlich wirst du den Ritter von Trutzenstein heiraten! Er ist unser Verbündeter!“
   „Aber nein!“, rief sie entsetzt: Hugo von Trutzenstein ist alt und hässlich! Er hat Zahnlücken und Pockennarben, Säbelbeine und einen Bauch! Nein, ich will ihn nicht!“
   „Die Heirat ist längst beschlossene Sache!“, sagte ihr Vater gebieterisch. „Der Ritter von Trutzenstein ist reich und mächtig! Sei froh, dass du nicht eines von den Bauernmädchen drunten im Dorf bist. Man hätte dich längst mit einem armen Schlucker verheiratet und du müsstest von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang schwer arbeiten. An deinem Rockzipfel hingen wahrscheinlich schon zwei schreiende Bälger, und du wüsstest nicht, wie du ihre hungrigen Mäuler stopfen sollst!“ Augenblicklich stand Claudia barfuß da. Das lange Gewand war verschwunden, und sie steckte stattdessen in einem derben, geflickten Sackrupfen. Das blonde Haar hing ihr strähnig um den Kopf und an ihrem Rock zerrten zwei plärrende, kleine Kinder. Sie wischte ihnen mit einem Schürzenzipfel die triefenden Nasen und die schmutzigen Gesichter ab, aber die Kleinen riefen immerfort: „Mama, wir haben Hunger!“
   Claudia klappte erschrocken das Buch zu, wischte 1000 Jahre beiseite und war wieder die 17-jährige Schülerin, die überlegte, ob sie einmal als Lehrerin kleinen Steppkes das Lesen und Schreiben beibringen sollte, oder ob es nicht doch viel aufregender wäre, Journalistin zu werden. Aber die Entscheidung drängte noch nicht. Viel brennender war die Frage, was sie heute Abend anziehen sollte. Kein wallendes Gewand und keinen Sackrupfen, soviel stand jedenfalls fest. Aber erst nachdem sie dreimal den Inhalt ihres Kleiderschranks inspiziert hatte, entschied sie sich für einen Minirock und ein knappes Shirt. 

   Kurz darauf kam Frau Karge in ihr Zimmer. „Hallo Claudia“, sagte sie, „ich habe einen Strohblumenstrauß vom Markt mitgebracht. Er liegt noch in der Küche. Sei doch so gut, und suche nach einer passenden Vase im Schrank.“ Claudia ging hinunter, nahm den Strauß und steckte ihn in eine schlanke hohe Glasvase. Die Glasvase bekam das Übergewicht und Claudia stellte sie in den Schrank zurück. Die bauchige Porzellanvase war zu klein, und in der weißen, hohen kam der Strauß nicht zur Wirkung. Claudia schob die Vasen hin und her und begann, im nächsten Fach zu suchen. Da entdeckte sie den Saftkrug, den ihre Mutter irgendwann einmal als günstiges Sonderangebot gekauft hatte. Weil jedoch die Familie praktischerweise ihren Saft nach wie vor direkt aus der Flasche in die Gläser goss, stand er schon lange unbenutzt im Schrank. Claudia drapierte den Strauß kurzerhand in den Krug und begutachtete ihn. Ja, so gefiel er ihr. 
   Frau Karge war gerade im Jogginganzug die Treppe herunter gekommen. „Mama, wo sollen die Blumen denn hin?“ 
   „Stell sie doch bitte auf den Schuhschrank neben der Eingangstür!“ Frau Karge schlüpfte in ihre Sportschuhe und band das blonde Haar zum Pferdeschwanz zusammen. „Ich geh jetzt noch eine Runde laufen. Ach ja, damit ich es nicht vergesse. Wir sind heute Abend eingeladen. Kann spät werden. Und was hast du am Abend vor?“
   „Kai und ich gehen nach Steinberg in die Disco!“
   „Denk an die Schule und bleib nicht so lange aus!“, mahnte Frau Karge, hängte sich ein Handtuch um den Hals und joggte zur Tür hinaus. 
***
Gut gelaunt trällerte Claudia die neuesten Hits vor sich hin. Sie hantierte schon seit einer halben Stunde mit Make-up und Wimperntusche, malte mit Lippenstift und Lidschatten. Zwischendurch zupfte sie immer wieder die Frisur zurecht. Aber trotz reichlich Gel und Haarspray wollten die kurzen Strähnen nicht so recht dort stehen bleiben, wo sie nach Claudias Meinung hingehörten. Daniel streckte grinsend seinen Kopf zur Badezimmertür herein:
   „He, Schwesterchen, machst du dich schön für den Bomber von Schroffenfels? Also ehrlich, ich finde ja, du siehst wie ein angemalter Igel aus!“ Daniel sah gerade noch die Geltube auf sich zufliegen und zog rechtzeitig den Kopf aus der Tür, bevor die Tube, begleitet von einem Schimpfwort, gegen das Holz klatschte. 

   Zu Daniels Glück läutete es an der Eingangstür. Claudia rannte die Treppe hinunter und riss die Haustür auf. Kai stand am Gartentor. „Hallo Kai, komm rein! Ich bin gleich fertig!“, rief Claudia und drückte auf den Türöffner. Sie zupfte den Minirock zurecht und schlüpfte in ein paar Schuhe mit hohen Absätzen. Als Claudia ihre Jacke vom Garderobenhaken nahm, stand Kai noch immer an der Gartentür.
   „He, was ist? Warum stehst du da draußen herum wie ein Ölgötze?“
Kai lächelte Claudia verlegen an und steckte fahrig den Autoschlüssel von einer Jackentasche in die andere. „Also es ist – also wegen der Disco ...“, stotterte er.
   „Ja, was ist mit der Disco?“ Kai konnte Claudias Stimme entnehmen, dass sie bereits Böses ahnte. Nervös fuhr er sich mit den Fingern über die kurzen Stoppeln, die mittlerweile nur noch an den Spitzen blond waren.
   „Ich – also - ich - ich kann heute nicht mit dir in die Disco!“ Jetzt war es heraus.
   „Du kannst nicht mit mir in die Disco?“ Claudias Stimme wurde schrill. „Und warum nicht?“
   „Unser Fußballplatz – du weißt doch – da buddelt noch immer der alte Böckmann herum ...“
   „Eben! Und darum könnt ihr nicht Fußball spielen und nicht trainieren, und du kannst mit mir in die Disco gehen!“, stellte Claudia fest.
   „Wir haben herausbekommen, dass er schon seit zwei Wochen nichts mehr gefunden hat – keine Scherben, keine Mauern, kein Garnichts! Deshalb treffen wir uns heute beim ‚Raubritter‘. Wir müssen unser weiteres Vorgehen besprechen. Wir wollen zum Bürgermeister, damit er die Graberei endlich beendet!“
   „Und deshalb kannst du nicht mit mir in die Disco gehen?“
   „Nein.“
   „Oooh! Du Schuft! Du Feigling!“ Claudias Stimme überschlug sich. Kai zuckte mit den Schultern und begann, langsam den Rückzug anzutreten. „Geh doch zu deinen blöden Fußballheinis!“, schrie Claudia. Tränen der Wut und der Enttäuschung traten ihr in die Augen. 
   „Aber Claudia ...“, stotterte Kai.
Claudia wollte sich umdrehen und die Tür zuschlagen – da sah sie den Krug mit den Strohblumen! Ohne zu überlegen, griff sie nach dem Krug und warf ... 

   Dass der Krug Kai nicht getroffen hatte, lag beileibe nicht an Kais schneller Reaktion. Claudia hatte trotz ihrer Wut nicht direkt auf Kai gezielt. Der Saftkrug war auf den Waschbetonplatten in Stücke zerschellt. Nun war die Wut verflogen. Kai war in seinem klapprigen Golf geflüchtet und Claudia fühlte sich wie das heulende Elend. Langsam bahnten sich ihre Tränen einen Weg durch die getuschten Wimpern, nahmen schwarze Farbe und hellbraunes Make-up auf ihrem Weg nach unten mit und bildeten auf ihren Wangen ein dunkles Rinnsal. Claudia schniefte. Durch den Tränenschleier blickte sie auf die Bescherung zu ihren Füßen. Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Augen. Dass sie damit das Ergebnis ihrer sorgfältigen Schminkarbeit im gesamten Gesicht verwischte, war ihr egal. Ihr Blick war jetzt wieder freier. Claudia hob den Strohblumenstrauß vom Boden auf. Er war total zerfleddert. Sie würde morgen von ihrem Taschengeld einen Neuen besorgen müssen. Claudia warf den Strauß in die Mülltonne und begann, die Scherben aufzusammeln. So ein Mist! Eine neue Vase war natürlich auch fällig. Sie warf die Scherben zu den Strohblumen in den Müll, ließ den Deckel zuklappen und ging zum Haus zurück. In der Haustür stand Daniel und grinste von einem Ohr zum anderen.
   „He, Schwesterchen, das war ein starker Auftritt!“, feixte er. „Schade, dass du ihn nicht getroffen hast!“ Zu Daniels Glück hatte Claudia nichts mehr zum Werfen in der Hand.
***
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