Leseproben

Leseproben aus "Die Beschwörungsformel

Auszug aus dem Ersten Kapitel: "Kalatur, der Geist des Rauches" 

Kinderbuch, Jugendbuch, All-Age-Buch, Modernes Märchen, Fantasybuch, Abenteuerbuch

 „Mächtiger Kalatur, allgewaltiger Geist des Rauches, größter aller Dschinn, ich rufe dich, denn ich schwacher Erdenmensch benötige die Hilfe deiner Geisterkraft!“ Schrill drang die Stimme von Siduri, der dritten Nebenfrau König Nebukadnezars zu ihm herein. Alles in Kalatur wehrte sich, dem Ruf zu folgen, aber die beringten Finger Siduris drehten und rieben die Flasche, die ihm als Wohnung diente, und Kalatur musste ihrem Ruf gehorchen. Er konzentrierte sich und sammelte seine Energien. Langsam und stetig begann er, als feine, weiße Rauchsäule durch den Flaschenhals nach oben zu strömen. Er bildete einen Wirbel wie ein Zyklon und verdichtete sich dann zu einer menschlichen Gestalt. Kalatur wusste, dass Siduri jedes Mal bis ins Mark ihrer Knochen erschrak, wenn sie ihn sah. Deshalb ließ er seinen Körper zur Größe eines furchterregenden Riesen anschwellen und fragte mit dröhnender Stimme: „Herrin Siduri, ich bin dein Diener. Was willst du von mir?" Dabei funkelte er sie aus seinen dunklen, von buschigen Brauen umrahmten Augen drohend an. Obwohl sie den Rauchgeist schon so oft in ihre Dienste gezwungen hatte, konnte sich Siduri einer Gänsehaut nicht erwehren. Sie wusste, dass Kalatur ihre ehrgeizigen Pläne und Intrigen missbilligte, aber sie wusste auch, dass er ihre Befehle befolgen musste. Es war ihr gelungen, Sanheb, den greisen Oberpriester des Gottes Marduk, zu belauschen, als jener den Geist gerufen hatte. Seither kannte sie die Beschwörungsformel. Wenig später hatte sie Sanheb die Flasche gestohlen, die Kalatur als Wohnung und Ort der Regeneration diente. Nun war der Geist ihr Diener und musste ihr zu Willen sein.

„Ich will, dass mein Sohn Ninzub die Prüfungen als strahlender Sieger verlässt!"

„Herrin Siduri, du überschätzt meine Kräfte. Ich kann deinen Sohn nicht klüger machen, als er in Wirklichkeit ist!"

„Kalatur stell dich nicht so an! Du hast bewiesen, dass du Pfeile lenken und Tiere stolpern lassen kannst, also kannst du auch dafür sorgen, dass Eli heute wieder wie ein Trottel und Dummkopf dasteht! Ich will, dass Ninzub der nächste König von Babylon wird und nicht er."

„Herrin Siduri, vergiss nicht, dass Gilgal, der die jungen Königssöhne in der Kunst des Lesens und Schreibens unterweist, den König stets über deren Fortschritte unterrichtet. Eli ist ein eifriger, gelehriger Schüler, während dein Sohn Ninzub nur Dummheiten im Kopf hat und die Keilschrift nur mit allergrößter Mühe lesen, geschweige denn richtig schreiben kann!"

„Papperlapapp", fuhr Siduri den Geist an, „keine faulen Ausreden! Jage Gilgal einen gehörigen Schrecken ein, dann wird er dem König genau das berichten, was du von ihm verlangst! Also fliege nun davon und folge meinem Befehl!"

Kalaturs Körper schrumpfte und wurde wieder zu feinem, weißem Rauch. Langsam und beinahe unsichtbar schwebte er durch den Garten des Palastes. Er sah Siduri durch eine Tür huschen, und weil er ein Geist war, sah er auch, was Siduri nicht gesehen hatte. Die alte Eninki, die einst die Amme des Königs gewesen war, stand hinter einem Baum verborgen und hatte Siduri belauscht. Kalatur machte sich darüber keine Gedanken. Er war ein Geist, und er musste die Befehle derer ausführen, die nach ihm riefen - ganz gleich, ob ihm die Befehle gefielen oder nicht. Unbemerkt flog er durch die königlichen Gärten und die weiträumige Palastanlage, bis er zu dem Raum kam, in dem der Oberschreiber und Lehrer Gilgal die jungen Königssöhne unterrichtete.

Gilgal war alleine im Raum. Er war damit beschäftigt, die Tontafeln für die bevorstehende Prüfung vorzubereiten. Seine Stirn war von Sorgen umwölkt. Etara, der alte Waffenmeister, der bisher die Königssöhne in der Kriegskunst unterwiesen hatte, war beim König in Ungnade gefallen. Gilgal war von heftiger Furcht ergriffen, dass ihn womöglich das gleiche Schicksal ereilen könnte. Er gab sich einen Ruck:

„Sei kein Angsthase Gilgal!", befahl er sich selbst. „Deine Schüler sind eifrig und machen gute Fortschritte. Einzig Ninzub trübt das gute Bild. Er ist frech und faul und hat nur Unsinn im Sinn. Aber der König weiß das. Er kann es mir nicht anlasten!" Er wollte gerade die metallenen Schreibgriffel bereitlegen, als er den Rauch bemerkte. Es war ein seltsamer Rauch, denn nirgendwo war Feuer. Der Rauch begann sich zu drehen, bildete einen Wirbel und plötzlich wuchs aus ihm ein Riese heraus. Gilgal fielen klappernd die Griffel aus der Hand. Der Riese wuchs weiter und füllte nun beinahe das halbe Zimmer aus. Er trug keine Kleider, nur ein rotes Tuch, das er wie einen Lendenschurz zwischen den Beinen hochgezogen und um die Hüften gewickelt hatte. Gilgal schlotterten vor Angst die Knie, als der Riese sich zu ihm hinunterbeugte. Die langen, schwarzen Haare, die der Riese im Nacken zusammengebunden hatte, fielen dabei nach vorne und kitzelten Gilgal an der Nase. Gilgal musste niesen. „W-w-was w-w-willst du von mir?", stotterte er zitternd vor Furcht.

„Nicht viel, nur eine Kleinigkeit!" Die Stimme des Riesen dröhnte so laut, dass Gilgal hoffte, der ganze Palast würde zusammenlaufen und ihm zu Hilfe eilen. Schwer legte ihm die furchterregende Gestalt die Hand auf die Schulter.

„Ich stehe zu deinen Diensten, erhabener Herr", stammelte Gilgal.

„Wunderbar!", dröhnte der Hüne. „Wenn du zu meinen Diensten stehst, wirst du heute ganz sicher dem König berichten, dass Siduris Sohn Ninzub der fleißigste und klügste deiner Schüler ist!" Und zur Bekräftigung seiner Worte fasste er Gilgal vorne am Obergewand und hob ihn ein wenig in die Höhe.

„Erhabener Herr, das kann ich nicht!", jammerte Gilgal. Der Riese hob den Oberschreiber noch ein wenig höher.

„Und warum nicht?"

„Es entspricht nicht der Wahrheit. Ninzub ist ein Dummkopf, ein Faulpelz und ein Tunichtgut!" 

Der Riese schüttelte Gilgal wie einen leeren Getreidesack. „Täuschst du dich da nicht?" Seine Stimme klang drohend wie Donnergrollen.

„Nein, erhabener Herr. Ich täusche mich nicht. Ich bin schließlich sein Lehrer!", wimmerte Gilgal von der Zimmerdecke herunter.

„Oh weh, ich glaube, die Sommersonne hat dein Gehirn vertrocknet!", dröhnte der schreckliche Hüne. „Aber an der frischen Luft wird dir bestimmt gleich wieder einfallen, dass Ninzub der klügste und eifrigste von allen deinen Schülern ist!" Er klemmte sich Gilgal unter den Arm und schwebte mit ihm zur Tür hinaus.

***

Auszug aus Kapitel 5:  Die Befreiung

     Zorro hatte dösend auf seiner Decke gelegen. Nun hob er den Kopf, stellte die Ohren auf und knurrte. „Sei still“, befahl Philipp, „ich hab eine grässliche Hausaufgabe auf und muss meine grauen Zellen anstrengen!“ „Dear Mark,“ hatte er bis jetzt in sein Heft geschrieben. „I spent my Easter holydays in …” Suchend blätterte Philipp im Wörterbuch. „Aha, ‚Marokko’ heißt auf Englisch ‚Morocco’. Für diese verflixte Hausaufgabe muss ich ganz bestimmt noch tausend Wörter nachschlagen“, schimpfte er. - Zorros Knurren steigerte sich zu einem dunklen Donnergrollen.

     „Ich hätte dich mit in die Schule nehmen sollen, damit du unseren Mr. Bean anknurrst. So eine Schnapsidee von dem: ‚Stellt euch vor, ihr hättet einen Brieffreund in London. Schreibt ihm, wie ihr eure Osterferien verbracht habt!’ Also ganz ehrlich, wenn ich bei dir zu Hause geblieben wäre, hätte ich mich leichter getan: ‚Ich ging jeden Morgen mit meinem Hund Gassi und spielte nachmittags mit meinen Freunden Fußball.’ Punkt und fertig! Das hätte ich ganz schnell übersetzt. Gut, was ‚Gassi gehen’ auf Englisch heißt, weiß ich auch nicht. Aber zwei Wochen mit dem Bus durch Marokko – Fes, Rabat, Marrakesch – immer mit einem abgehalfterten Pauker im Nacken und einer Großmutter, die auf jedem Markt einkauft wie eine Wilde – Lederbeutel, Silberarmbänder, alte, blaue Glasflaschen – das wird ein endlos langer Brief! Aber warum erzähl ich dir das alles? Du bist ja nur ein dummer Hund und versteht nichts von dem, was ich dir sage!“ Zorro war von seiner Decke aufgesprungen. Sein schwarzes Fell sträubte sich, und mit hochgezogenen Lefzen fletschte er drohend die Zähne.

     „He, war nicht so gemeint“, witzelte Philipp, „du bist selbstverständlich der klügste und schlauste Hund, den ich kenne. Aber bei dem blöden Brief kannst du mir leider nicht helfen!“ Philipp stemmte den Ellbogen auf den Schreibtisch und stützte den Kopf ab. „Also, ich schreibe am besten, dass wir bis nach Agadir geflogen und dann mit dem Bus gefahren sind, dass wir viele Moscheen besichtigt haben ... Was heißt wohl Moschee auf Englisch?“ Philipp griff wieder nach dem Wörterbuch und blätterte. „K, l, m ...“, murmelte er vor sich hin, „mo... – Morphium, morsch, Mörser, Mörtel ...“, suchend fuhr er mit dem Finger über die Zeilen. „Verflixt nochmal Zorro, warum bellst du das Regal an? Sei endlich still!“ Zorro hörte auf zu bellen und verlegte sich wieder auf sein dumpfes Grollen. „’Mosque’ – ich hab’s gefunden. Moschee heißt ‚mosque’! Philipp notierte es auf einem Schmierblock. Zorro sprang mit wütendem Gebell vor dem Regal in die Höhe. „Zorro, du führst dich auf, als wenn sich des Nachbarn fetter Kater in meinem Regal versteckt hätte! Oder ist es am Ende die Flasche, die dich so aufregt?“ Philipp hatte den Stift beiseitegelegt und war von seinem Schreibtisch aufgestanden. Einen kurzen Moment lang war es ihm so vorgekommen, als hätte die blaue Glasflasche, die seine Großmutter nicht mehr hatte haben wollen, violett geschimmert. „So ein Quatsch“, sagte er und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. „Aber das könnte ich übrigens auch schreiben: ‚Meine Großmutter kaufte eine alte, blaue Flasche. Leider konnten wir den Pfropfen nicht öffnen.’” In diesem Moment kam Philipp eine zündende Idee: „Mensch, wir haben doch ‘ne Bohrmaschine! Die kleine, handliche Akkumaschine, die mein Vater neulich gekauft hat. Damit könnte ich es mal probieren!“ Im nächsten Moment war er aufgesprungen und hatte die verflixte Hausaufgabe vergessen. Er schnappte sich Oma Webers Souvenir aus Marrakesch, das er auf eines der oberen Borde in seinem Regal gestellt hatte, und stieg die Kellertreppe hinunter. Zorro rannte mit wütendem Gebell hinter ihm her.

     „Komisch“, dachte sich Philipp, „bisher ist mir noch gar nicht aufgefallen, dass die Flasche in verschiedenen Farben schimmert. Jetzt sieht sie beinahe rot aus. Wird wohl an der neuen Leuchtstoffröhre liegen, die mein Vater neulich in seiner Kellerwerkstatt installiert hat.“ Philipp suchte sich aus Vaters Bohrern einen passenden aus und spannte ihn ins Bohrfutter der Bohrmaschine, während Zorro unablässig knurrte und bellte.

     „Mist“, schimpfte er, „Ich kann die Maschine nicht mit einer Hand halten. Was mach ich jetzt? Ich weiß es - ich spanne die Flasche in den Schraubstock. Das Glas ist ja so dick, das geht bestimmt nicht kaputt!“ Vorsichtshalber wickelte er die Flasche in ein altes Handtuch, bevor er langsam und vorsichtig die Backen des Schraubstocks zudrehte.

     „Jetzt sieht die Flasche auf einmal grün aus“, fand Philipp. „Das kommt wohl vom Handtuch. Das ist auch grün.“ Mit beiden Händen fasste er die Bohrmaschine und setzte den Bohrer am hartnäckigen Pfropfen an, aber die Flasche begann zwischen den Backen des Schraubstockes zu rutschen. Philipp legte die Bohrmaschine auf der Werkbank ab, drehte den Schraubstock noch ein wenig fester – und plötzlich zerbarst die Flasche mit einem ohrenbetäubenden Knall!

     Philipp stand vor Schreck wie gelähmt. Weißer Rauch erfüllte den Raum und sank nun langsam zu Boden. Zorro, der aufgehört hatte zu bellen, stand mit eingezogenem Schwanz in der Tür und jaulte. Der weiße Rauch schwebte über dem Fußboden, bildete einen Kringel und zerfloss wieder. „Was ist das?“, schoss es Philipp durch den Kopf. „Giftige Dämpfe? Säure? Gas?“ Aber der Rauch war geruchlos. Er kringelte sich, floss wieder auseinander, kringelte sich von Neuem. Mit einem Mal wurde der Kringel kraftvoller, wirbelte schneller und schneller, bis er aussah wie eine Windhose. Unfähig sich zu rühren, starrte Philipp auf das seltsame Schauspiel. Plötzlich wurde der Rauch dichter und formte sich zu einer menschlichen Gestalt. Philipp wollte schreien, öffnete den Mund, aber der Schrei blieb ihm im Hals stecken. Zorro machte einen Satz nach vorne. Mit wütendem Kläffen sprang er an der Gestalt hoch, wollte sie mit seinen Zähnen packen - doch im gleichen Augenblick zerfiel die Gestalt wieder zu weißem Rauch. Winselnd wich Zorro zurück, während der Rauch sich wieder über den Fußboden kringelte, erneut zu wirbeln begann und wieder zerfloss.


***


Auszug aus Kapitel 6: Freiheit mit Hindernissen

Fliegen! Endlich wieder fliegen! Schwerelos als weißer Rauch durch die Luft gleiten, ohne Barrieren, ohne Hindernisse! Kein Glas und kein Pfropfen schlossen ihn mehr ein – wie lange hatte er das vermisst! Nach vielen tausend Jahren war er nun nicht nur seinem Gefängnis entkommen, sondern zum ersten Mal war er auch wirklich frei. Kein Mensch konnte ihm irgendetwas befehlen, niemand konnte ihn in seine Dienste zwingen. Höchstens die Götter, die ihn vor unermesslich langer Zeit erschaffen hatten, damit er den Menschen dienen und helfen solle. Was sie sich wohl dabei gedacht hatten? Wahrscheinlich nicht sonderlich viel, sonst hätten nicht Menschen wie Siduri seine Kräfte auf solch schändliche Weise ausnützen können. 

Ellil, Marduk, Ischtar - ob es sie noch gab, die alten Götter Babylons? Womöglich opferten die Menschen schon seit Jahrhunderten neuen Göttern und die alten hatten längst ihre Macht verloren. Es war aber auch gut möglich, dass die Menschen in diesem Land mit dem seltsamen Namen Deutschland ihre eigenen Götter hatten, so wie die Meder oder die Ägypter und Phöniker. Er würde es herausbringen, würde heimlich, als unauffällige Rauchwolke die Sitten und Gebräuche der Menschen studieren und sich ansonsten von ihnen fernhalten.

Kalatur hatte sich eine Weile dem Rausch des Schwebens hingegeben, war mit den Vögeln um die Wipfel der Bäume geflogen und hatte sich in der Luft vor Freude gekringelt und gedreht. Aber jetzt war es an der Zeit, dass er einen geeigneten Platz für seine neue Flasche fand. Er flog etwas tiefer und folgte dem breiten, grauen Band, das sich glatt und eben am Boden entlang zog. Es schien eine Straße zu sein, obwohl er noch keinen Eselskarren und auch keinen Pferdewagen gesichtet hatte, - nur einen Mann in grellbunter, eng anliegender Kleidung, der sich mit gleichmäßig strampelnden Beinbewegungen auf einem seltsam anmutenden Gerät fortbewegte. Kalatur folgte dem schwitzenden und keuchenden Mann, um den Mechanismus der beiden Reifen zu studieren, die durch allerlei Stangen, Kurbeln und Ketten miteinander verbunden waren. Er wunderte sich noch, warum der Mann auf den schmalen Reifen nicht umkippte, als er plötzlich von der Ferne ein lautes Dröhnen und Brummen vernahm. Das Geräusch kam sehr schnell näher. Kalatur sah unter sich ein glänzendes, silbergraues Ding, das sich in rasender Geschwindigkeit auf dem grauen Band fortbewegte, und genauso schnell wie es gekommen war, auch wieder verschwand. Bevor Kalatur sich einen Reim darauf machen konnte, näherte sich von der anderen Seite wieder so ein schnelles, brummendes Ding. Es war rot und glänzend und laut und auch dieses seltsame Ding verschwand so schnell wie es gekommen war. Als er wieder dieses Brummen und Dröhnen vernahm, flog Kalatur noch tiefer und schwebte dicht neben der Straße her. Jetzt sah er, dass sich das Ding auf vier Rädern fortbewegte, und dass in seinem Inneren ein Mensch saß. Ob dies ein menschenfressendes Monster war? Dann bräuchte der Mensch jetzt seine Hilfe. Aber das Monster war zu schnell. Kalatur konnte nicht annähernd seine Geschwindigkeit halten. Als er wieder höher schwebte, sah er vor sich ein riesiges Gebäude, das beinahe so groß war wie König Nebukadnezars Palast. Aber es war nicht verziert wie der Palast Nebukadnezars, sondern hatte nur Unmengen dieser durchsichtigen Fenster, die es auch im Haus des Jungen Philipp gab. Vor dem Gebäude war ein großer Platz und er war voll jener glänzenden Monster. Sie lärmten und brummten und dröhnten nicht, sondern standen einfach nur da. Es saßen auch keine Menschen drin. Kalatur stellte fest, dass diese Dinger allesamt aus einem ihm unbekannten Metall waren und deshalb keine Monster sein konnten. Dann sah er, wie ein Mensch schnellen Schrittes auf eines der metallenen Gebilde zuging, eine Tür an der Seite öffnete und sich hineinsetzte. Kurz darauf begann das Gebilde zu brummen und zu dröhnen und setzte sich zuerst langsam in Bewegung, um dann schnell auf der grauen Straße zu verschwinden. Ganz offensichtlich war dieses brummende Ding eine Maschine, mit deren Hilfe sich die Menschen fortbewegten. Nachdem Kalatur gestern im Haus des Jungen eine Maschine ausgeräumt hatte, die selbsttätig schmutziges Essgeschirr wäscht, wunderte er sich gar nicht mehr darüber. In diesem Land hatten Maschinen die Arbeit von Dienern und Sklaven und wohl auch von Eseln und Pferden übernommen. Nein, die Hilfe eines Rauchgeistes brauchte hier ganz gewiss niemand.

Der Platz vor dem Gebäude war als Versteck für seine Flasche ungeeignet. Kalatur schwebte wieder etwas höher und flog über das Haus hinweg. Dahinter gab es einen weiteren freien Platz. Kalatur nahm an, dass er kultischen Zwecken diente, denn in seiner Mitte war ein magisches Zeichen aufgemalt: ein rotes Kreuz auf weißem Grund. Ob das Gebäude ein Tempel war? Dann sollte er es vielleicht erkunden, um herauszufinden, welchen Göttern die Menschen hier huldigten.

Kalatur war so in seine Überlegungen versunken, dass er das Brummen und Dröhnen gar nicht wahrnahm. Als er endlich aufsah, war das Ungeheuer bereits über ihm. Wie eine riesige Libelle mit rotierenden Flügeln schwebte es lärmend vom Himmel herab. Ehe Kalatur flüchten konnte, fühlte er sich wie von Riesenfäusten gepackt, geschüttelt und herumgewirbelt. Ihm war, als wolle ihn das Ungeheuer in Stücke reißen. Mit letzter Kraft konzentrierte er seine Energie, um den rotierenden Flügeln zu entkommen, die seine Rauchgestalt in Stücke hacken wollten. Plötzlich ließ ihn das Ungeheuer los und schleuderte ihn davon. Kalatur landete unsanft in einem Baum. Er hatte Mühe, seine Energie zu sammeln, denn durch die Wucht des Aufpralls hatte sich seine Rauchgestalt in Zweigen und Geäst verfangen. Hatte er eine heilige Stätte entweiht und damit den Zorn eines fremden Gottes geweckt? Während Kalatur noch darüber nachdachte, eilten plötzlich weiß gekleidete Menschen aus dem Gebäude. Sie rannten in geduckter Haltung auf die Riesenlibelle zu, die genau auf dem magischen Zeichen zu Boden gegangen war. Noch immer rotierten die Flügel des Ungeheuers, als sich eine Tür an seiner Seite öffnete und zwei Menschen eine Tragbahre heraushoben. Kalatur erkannte, dass ein Kranker auf der Trage lag. Die Leute aus dem großen Gebäude hoben den Kranken auf einen Wagen und rannten mit ihm, so schnell wie sie gekommen waren, zum Gebäude zurück, während die riesige Libelle ihre Flügel wieder schneller rotieren ließ und senkrecht nach oben davonflog.

***


Auszug aus Kapitel 10:  Entdeckt

   Frau Baumann bugsierte Staubsauger, Eimer und Wischmopp in Philipps Zimmer. „Es ist doch immer dasselbe Theater“, schimpfte Philipps Mutter halblaut vor sich hin, „ich will sauber machen, und Philipp hat nicht aufgeräumt!“ Entnervt und wie immer in Zeitnot, weil sie an ihrem freien Tag tausend Dinge zu erledigen hatte, sammelte sie Sweatshirts, Jeans und Socken vom Boden auf und warf herumliegende Schulbücher, Komikhefte und diverse CDs aufs Bett. Zorro flüchtete vor ihrem Tatendrang und den vielen Putzutensilien auf den Flur. Frau Baumann bückte sich, fischte mit dem Wischmopp ein Fernlenkauto, einen einzelnen Turnschuh und einen Fußball unter dem Bett hervor, klaubte die Überreste einer zerlegten Computermaus zusammen und wunderte sich über die alte Lesefibel für Abc-Schützen, die auf Philipps Schreibtisch lag. Mitten im Zimmer stand auf dem Fußboden der Globus herum. Frau Baumann wischte ihn ab und überlegte, wo er wohl vorher gestanden hatte. Im Regal, auf dem obersten Bord, war noch Platz. Sie müsste nur die bunte Flasche, die dort stand, ein wenig zur Seite schieben und die kreuz und quer herumliegenden Bücher aufstellen. Aber zuerst mussten alle Borde abgestaubt werden. Frau Baumann griff sich ihr Staubtuch, während Zorro am Staubsauger vorbei ins Zimmer zurückschlich und wütend zum Regal hinaufbellte.

     „Nun sei schon still“, befahl Frau Baumann, ich hab jetzt keine Zeit für dich!“ Sie hatte gerade die Bücher aufgestellt, konnte aber die Bücherstütze nicht finden. Sie stellte das vorderste Buch schräg, um im Fach darunter nach der fehlenden Stütze zu suchen, aber der große Bildband über die Wildtiere Afrikas fing an zu rutschen, stieß gegen die bunte Flasche, die Flasche kippte, schlug gegen den seitlichen Metallholm, an dem die Borde befestigt waren – und Frau Baumann fing die Flasche im letzten Moment mit einem erschrockenen Schrei auf. „Ups, das war knapp, beinahe wäre mir die Flasche auf die Fliesen geknallt!“, murmelte sie. Sie wollte die Flasche schon wieder ins Regal zurückstellen, hielt dann aber inne. „Was hat er denn mit dieser Saftflasche gemacht?“, wunderte sie sich. „Warum hat er sie angemalt? Ist da was drin?“ Sie spähte durch die Öffnung. „Scheint leer zu sein – oder doch nicht? Sieht fast so aus, als wenn da Rauch drin wäre.“ Sie schüttelte die Flasche, drehte sie um – und sah durch den durchsichtigen Boden in ein Gesicht. Mit einem Aufschrei ließ sie die Flasche fallen …

Unfähig sich zu bewegen, starrte Frau Baumann auf den feinen weißen Rauch, der aus den Scherben aufstieg und zu wirbeln begann wie eine Windhose. „Was ist das?“, flüsterte sie entsetzt, als sich der Rauch zu einer menschlichen Gestalt verdichtete. Sie wollte schreien, doch der Schrei blieb ihr im Halse stecken. Zorro knurrte und bellte, aber die Gestalt befahl mit dröhnender Stimme: „Zorro Platz!“, und Zorro gehorchte, ganz so als wenn er daran gewöhnt wäre, die Befehle dieser furchterregenden Gestalt zu befolgen.

     „Dies ist nun bereits das zweite Mal, dass meine Wohnung in diesem Haus zu Bruch geht!“, sprach die Gestalt sie in vorwurfsvollem Ton an.

     „Wohnung? Welche Wohnung? Und wer bist du überhaupt?“, stieß Philipps Mutter hervor.

     „Ich bin Kalatur, der Geist des Rauches. Du kennst mich zwar nicht, aber ich bin der Entleerer deiner Spülmaschine.“

     „Der - der - Entleerer meiner Spülmaschine“, wiederholte Frau Baumann mit tonloser Stimme.

     „Genau! Jeden Tag, bevor du nachhause kommst, erledige ich für deinen Sohn Philipp diese Arbeit“, bestätigte die schreckliche Gestalt, die sich Kalatur nannte. „Dafür erklärt mir Philipp im Gegenzug die Geheimnisse der modernen Welt.“

     „Philipp – er - er erklärt dir …“ Frau Baumann blieben die Worte im Hals stecken.

     „Genau! Und ich habe in der Flasche gewohnt, die du soeben zerbrochen hast! Philipp hat sie mir angemalt.“

    „Philipp – er hat – er hat …“, stotterte Philipps Mutter. Sie brachte keinen vollständigen Satz mehr über die Lippen.

     „Ja, nachdem er meine blaue Flasche zerbrochen hatte.“

     „Deine blaue Flasche? Die Flasche aus Marokko? Du bist – du bist ein Flaschengeist?“

     „Nun ja, so nennt ihr Menschen das wohl gemeinhin.“

    „Ein Flaschengeist!“, flüsterte Frau Baumann entsetzt. „Nein, das kann nicht sein! Das gibt es nicht! Spinne ich jetzt, oder träume ich nur? Ja, wahrscheinlich träume ich nur! Du bist ein Traum, ein ganz verrückter Traum!“

     „Ich kann dir versichern, dass du weder spinnst, noch träumst!“, erklärte der Geist höflich.

Frau Baumanns Gedanken wurden langsam wieder klarer: „Ja Moment mal, wenn du wirklich ein richtiger Flaschengeist bist, müsstest du dann nicht sagen: ‚Ich bin dein ergebener Diener und werde alles ausführen, was du befiehlst!’, oder jedenfalls so etwas Ähnliches?“

Die Miene des Geistes verfinsterte sich: „Nein!“

     „Nein?“

     „Nein, du kennst die Formel nicht!“

     „Ach, man muss eine Formel kennen? In den alten Geschichten aus Tausendundeine Nacht war das aber nicht so!“

     „Es ist schon seltsam mit euch Menschen“, sagte Kalatur. „Zuerst glaubt ihr, ihr wärt verrückt geworden oder ihr träumt, und dann erwartet ihr, dass ich funktioniere wie in euren Märchen. Aber ich bin kein Märchengeist. Ich bin Kalatur, der Geist des Rauches, und wer meine Dienste in Anspruch nehmen will, der muss die richtige Formel sprechen. Aber es gibt keinen Menschen mehr, der sie kennt. Deshalb kann mich auch niemand mehr in seine Dienste zwingen und meine Kräfte für seine egoistischen Ziele ausnützen!“

     „Oh, das will ich nicht! Ich - ich hatte nur gedacht, du könntest mir vielleicht die viele Hausarbeit abnehmen. Ein Augenzwinkern und alles ist aufgeräumt und sauber, und noch ein Augenzwinkern und alle Wäsche ist gewaschen und gebügelt!“

     „Und morgen willst du Geld und Schmuck und neue Kleider, übermorgen ein größeres Haus, und nächste Woche willst du etwas, das der Nachbarin gehört, und ich soll dafür sorgen, dass ihr ein Unglück zustößt!“

     „Oh nein!“, rief Philipps Mutter erschrocken. „So etwas würde ich nie wollen!“

Kalatur sah sie mit alles durchdringenden Augen an und entgegnete: „Glaube mir, ich kenne die Menschen. Sie sind unersättlich in ihrer Gier nach Reichtum und Macht!“

Frau Baumann wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. „Mag sein, dass er Recht hat, mit der Gier der Menschen“, dachte sie. „Bei den meisten trifft das wahrscheinlich zu - aber ich – nein, ich bin ganz bestimmt nicht gierig!“ Kalatur ließ ihr keine Zeit für weitere Überlegungen:

     „Vergiss nicht, dass du meine Wohnung zerbrochen hast. Ich brauche eine neue Flasche!“, mahnte er.

     „Eine Flasche – natürlich – da werde ich schon irgendetwas finden", murmelte Frau Baumann.

***

Auszug aus Kapitel 16: Geisterjäger

     ... Als Bartelmann zu seinem Auto ging, das er in einer Seitenstraße geparkt hatte, legte er sich im Geiste schon einen Schlachtplan zurecht. „Ich werde diese Frau Weber beobachten. Sie wird sicher in der nächsten Zeit ihren Enkel und dessen Familie besuchen. Am besten parke ich sichtgeschützt vor ihrem Haus und wenn sie …“ Weiter konnte er seine Gedanken nicht spinnen, denn plötzlich wurde er von hinten gepackt, roh in ein Gebüsch gezerrt und jemand hielt ihm einen kalten Gegenstand an die Schläfe.

     „Keinen Mucks, sonst drücke ich ab und du kannst dir die Radieschen von unten betrachten!“, warnte eine harte Stimme, die ihm seltsam bekannt vorkam. Die Warnung war überflüssig, denn Bartelmann brachte vor Schreck ohnehin keinen Ton heraus.      „Gib uns die Flasche und dann kannst du wieder verduften!“, befahl die Stimme. Jetzt wusste er, woher er die Stimme kannte.

     „Flasche? Welche Flasche?“, versuchte er, den Ahnungslosen zu mimen.

     „Spar dir die Mätzchen!“, drohte die Stimme. „Die blaue Flasche mit dem Dschinn! Deswegen warst du doch hier!“

     „Oh nein, oh nein, ich wollte der Frau Weber doch nur mein Urlaubsvideo bringen!“

     "Die Story hat dir vielleicht die Alte abgekauft, aber bei uns kommst du damit nicht durch. Durchsuch ihn!“, befahl die Stimme.

Der junge Mann, von dem Bartelmann wusste, dass er ein Student namens Torsten war, trat in sein Blickfeld und begann, wenn auch zögernd, an ihm herumzutasten. „Er hat keine Flasche bei sich!“

     „Natürlich nicht! Wo sollte ich die denn haben?“

     „Wo hast du sie versteckt?“ Bartelmann wusste längst, dass die harte, drohende Stimme dem Assyriologen Dr. Gnoche gehörte.

     „Die Flasche existiert nicht mehr!“, jammerte er. Der kalte Gegenstand, den er für eine Pistole hielt, drückte sich noch fester an seine Schläfe.

     „Lüg uns nicht an!“, drohte Dr. Gnoche. Er packte den ehemaligen Oberstudienrat, der über keine kräftige Statur verfügte, sondern eher schmächtig war, noch fester und hoffte, dass dieser blöde Expauker nicht bemerkte, dass das Ding an seiner Schläfe nur eine, wenn auch täuschend echt aussehende, Spielzeugpistole war.

Friedhelm Bartelmann bekam es nun wirklich mit der Angst zu tun. „Es ist die Wahrheit! Sie konnte die Flasche nicht öffnen und hat sie ihrem Enkel geschenkt. Aber der hat sie zerbrochen!“

     „Wie heißt der Enkel und wo wohnt er?“

     „Das weiß ich nicht!“, jammerte Bartelmann. „Ich weiß nur, dass er Philipp heißt. Womöglich heißt er ja auch Weber!“

     „Wenn Du uns einen Bären aufgebunden hast, wird dir das noch leidtun!“, drohte Alexander Gnoche und nach einem kurzen Zögern schlug er seinem Opfer hart die Spielzeugpistole an den Kopf.

***

     Ein Brummen und Dröhnen drang von weither in sein Bewusstsein, und dann vernahm er ein leises, schmatzendes Geräusch. Etwas Feuchtes, Warmes fuhr ihm übers Gesicht und er dachte, es wäre seine Mutter, die ihm mit einem Waschlappen und warmem Wasser das Gesicht wusch. So wie früher, als er noch ein ewig schmutziger, kleiner Junge gewesen war. Aber als er die Augen öffnete, sah er über sich nicht seine Mutter, sondern einen riesigen, hellbraunen Golden Retriever, der ihm mit seiner warmen, feuchten Zunge das Gesicht abschleckte. Friedhelm Bartelmann stieß einen entsetzten Schrei aus. Er hasste Hunde und hatte noch dazu schreckliche Angst vor ihnen.

     „Frodo! Froodooo! Hier steckst du, du unfolgsamer Hund! Jetzt musst Du aber an die Leine!“ Über dem Golden Retriever tauchte eine Frau mittleren Alters auf. „Oh, oooh!“, stammelte sie entsetzt. „Was ist mit Ihnen?“

Bartelmann war nach dem ersten Schrecken wieder Herr seiner Sinne. „Nichts, gar nichts. Nehmen Sie nur Ihren Hund von mir weg!“

     „Ja, ja natürlich, aber Sie bluten ja!“

Er wischte sich mit der Hand über die Schläfe. Er blutete tatsächlich, und das Brummen und Dröhnen schien aus seinem Kopf zu kommen. „Es – es ist nichts weiter, mir war nur ein wenig schwindelig. Ich – ich muss mich wohl gestoßen haben“, beschwichtigte er, noch immer ein wenig benommen.

     „Ja wo denn? Hier im Gebüsch? Ich rufe die Sanitäter, den Notarzt, die Polizei …“, aufgeregt kramte die Frau in ihren Taschen nach dem Handy.

Notarzt und Polizei? – Die würden ihm seine Geschichte womöglich nicht abkaufen und alle möglichen Fragen stellen. Er musste hier weg, so schnell wie möglich. „Nein, nicht nötig! Wirklich nicht! Das war nur mein schwacher Kreislauf! Alles wieder in Ordnung! Wenn Sie jetzt endlich Ihren Köter anleinen und von mir wegholen würden, dann könnte ich auch schon aufstehen und weitergehen!“

     „Frodo, hiiier!“, befahl die Frau etwas unsicher. Frodo, der im Grunde ein höchst folgsamer Golden Retriever war, ließ von Bartelmann ab und setzte sich brav vor sein Frauchen hin. Als der Schäkel der Hundeleine am Halsband eingerastet war, rappelte sich Bartelmann hoch und tappte schwankend zu seinem Auto.

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